Temelin09 - oder: Wie man erfolgreich die Bevölkerung ausbremst.

05.10.09 - Ein Rückblick auf die vergangenen neun Jahre österreichischen Temelin-Widerstand

Volltext siehe unten

Als am 9. Oktober 2000 im AKW Temelin die atomare Kettenreaktion trotz der massiven Proteste auch an den tschechisch-österreichischen Grenzübergängen gestartet wurde, ist das ein trauriger Tiefpunkt der jahrelangen Bemühungen, das Atomkraftwerk Temelin zu verhindern. Die Proteste flauten aber nicht ab - trotzdem ist Temelin auch neun Jahre nach dem Start der atomaren Kettenreaktion ein Sicherheitsrisiko. Kein Wunder: die mit Österreich - auf politischer Ebene! - paktierten Sicherheitsnachrüstungen aus dem Melker Abkommen sind bis heute nicht umgesetzt worden. Tschechien streitet die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Melker Abkommens ab. Die Politikerversprechen - auch der österreichischen Politik - dass Temelin nachgerüstet wird (siehe der damalige ÖVP-Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel in einer Rede vor dem österreichischen Nationalrat am 11. Dezember 2001) und zwar verbindlich und auf westeuropäisches Sicherheitsniveau und noch bevor der kommerzielle Betrieb im AKW Temelin aufgenommen wird - sind wie Seifenblasen geplatzt.

Und die Lehren daraus?

"Es ist tragisch genug, dass man beim AKW Temelin der eigenen österreichischen Bundesregierung massives Versagen vorwerfen muss: Anstatt in Tschechien auf die lückenlose Umsetzung des Melker Abkommens zu beharren, konzentrierte man sich lieber darauf, die lästigen Protestmaßnahmen zu beenden. Dass sich die oberösterreichische Landespolitik mit ihren Interessen in Wien nicht durchsetzen konnte, ist unverständlich. Die Protestmaßnahmen gegen Temelin wurden ja auch massiv von Oberösterreich geschürt: Bis zu einem bestimmten Punkt, aber dann hatten sie tunlichst zu unterbleiben. Ähnliches droht uns wohl wieder bei der Erweiterung von Temelin um zwei weitere Reaktoren: Protest ja, bitte … aber nicht so, dass es für die Nachbarn zu lästig wird …", so Roland Egger und Gabriele Schweiger, Sprecher von atomstopp_oberoesterreich zum 9. Jahrestag- Start der atomaren Kettenreaktion in Temelin.

Sehr kritisch sieht atomstopp_oberoesterreich die grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsverfahren bei Atomkraftwerken. Aktuelles Beispiel ist das AKW Mochovce. "Der Bau von Mochovce ist - mit einer Baugenehmigung aus dem Jahr 1986 - besiegelt. Die öffentliche Anhörung in Bratislava und Wien über die Bühne gegangen. Über die EU-Konformität des slowakischen UVP-Gesetzes bestehen Zweifel! Und nun? Die Rechtslage in der Europäischen Union erlaubt jedem Mitgliedstaat - auf Basis seiner eigenen Gesetze - Atomkraftwerke zu bauen. Die Slowakei wird - gerade unter Berufung auf den EURATOM-Vertrag, der den Aufbau einer mächtigen europäischen Atomindustrie vorschreibt - wenig Widerstand aus Brüssel zu erwarten haben. Der von manchen so gelobte EURATOM-Vertrag sieht nichts weiter vor, als eine unverbindliche Stellungnahme zu den geplanten Atomkraftwerken. Mehr aber nicht. Dass Österreich noch Mitglied bei EURATOM ist und damit auch mit österreichischen Steuergeldern die Atomindustrie gefördert wird, scheint angesichts der - nun auch politisch stark forcierten - Protestmaßnahmen gegen das AKW Mochovce heuchlerisch, vor allem auch, weil sie auf Bundesebene keinen Niederschlag finden und auf diplomatisch unbedenklicher Länderebene bleiben!", so die Sprecher von atomstopp_oberoesterreich abschließend.

Weitere Informationen:
Roland Egger + 43 664 421 56 13
Gabriele Schweiger + 43 664 390 77 09


Ein Rückblick auf die vergangenen neun Jahre österreichischen Temelin-Widerstand.

Jahrelang wurden an den Grenzen zu Tschechien etwa von den Müttern gegen Atomgefahr aus Freistadt Infostände betreut: In Südböhmen soll das erste Atomkraftwerk seit dem SUPER-Gau von Tschernobyl in Betrieb gehen. 80 km von Freistadt in Oberösterreich entfernt. Sämtliche Informationstätigkeit geht jedoch ins Leere.

Man schreibt das Jahr 2000: Die Aufregung bei der tschechischen Politik ist groß. Besorgte Menschen versammeln sich nun an der Grenze zu Tschechien, um ihren Sorgen Ausdruck zu verleihen und die Politik zum Handeln zu bringen.

Die Proteste erreichen ungeahnte Ausmaße, einen nie da gewesenen politischen Schulterschluss: Ärzte, Hausfrauen, Krankenschwester, Apotheker, Beamte, Lehrer und Schüler, sie alle protestieren. Bauern fahren mit ihren Traktoren auf, Sitzblockaden werden veranstaltet, nächteweise an den Grenzübergängen campiert. Illegal. Also ohne behördliche Genehmigung. Im Spätherbst.

Grund der Proteste: In Tschechien soll das AKW Temelin WWER-1000 - russischer Bauart, nachgerüstet mit amerikanischer Technologie - in Betrieb gehen. Ein baugleicher Typ in der ehemaligen DDR wurde nach der Wende nicht fertiggebaut - eine Nachrüstung wäre technisch zu aufwendig und kostspielig gewesen. Trotz Nachrüstung bleiben beim AKW Temelin sieben (!) gravierende Sicherheitsdefizite. Besonders kritisiert wird die parallele Führung von hochenergetischen Leitungen auf der 28,8m-Bühne. Der Bruch von einer Leitung hätte unter Umständen katastrophale Auswirkungen auf die Kühlung des Reaktors - eine Kernschmelze wäre die Folge.

Zu der Zeit laufen mit Tschechien die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union. Die "Sicherheitsstandards" im AKW Temelin werden im Rahmen des Energiekapitels behandelt. In der Hochphase haben alle politischen Parteien in Oberösterreich zu den Grenzblockaden aufgerufen. Zehntausende Menschen schlossen sich den Protesten an. … dennoch: Die Kettenreaktion wird am 9. Oktober 2000 gestartet. Der oberösterreichische Landeshauptmann dankt via Medien allen Menschen, die nächtelang an den Grenzen ausgeharrt haben.

Um den Protesten an den Grenzübergängen Herr zu werden, einigt sich die Politik in Tschechien und Österreich - unter Vermittlung des damaligen EU-Erweiterungskommissars im Dezember 2001 auf das Brüsseler Abkommen, in dem Tschechien u.a. verpflichtet, dem AKW Temelin erst dann den kommerziellen Betrieb zu genehmigen, wenn alle offenen Sicherheitsdefizite gelöst sind. Völkerrechtlich verbindlich ist das Abkommen, nach allgemeinem Befinden und: es sollte - so die Aussagen des österreichischen Bundeskanzlers vor dem Parlament in Wien im Dezember 2001 - dem EU-Beitrittsvertrag mit Tschechien übernommen werden. Besondere Informationspflichten bei Störungen im AKW Temelin sollten für vertrauensbildend bei der österreichischen Bevölkerung wirken.

Nach dem Abschluss des Melker Abkommens im Dezember 2001 wird es an den Grenzen ruhig. Kein Wunder: Hat doch Bundeskanzler Kanzler die Unterlassung weiterer Grenzblockaden als Unterpfand in die Verhandlungen mit Tschechien eingebracht.
Die Politik in Österreich setzt auf Diplomatie, Verhandlungen, Diskussionen.

Die Freiheitliche Partei startet im Feber 2002 ein Volksbegehren, mit dem der Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union wegen des AKW Temelin doch noch verhindert werden soll. Mehr als 900.000 Unterschriften wurden im Volksbegehren gesammelt. Absurdes Detail: Dieselbe Freiheitliche Partei hatte als damalige Regierungspartei dem Schließen des Tschechischen Energiekapitels zugestimmt und damit ein durchaus wirksames Druckmittel aus der Hand gegeben.

Schon im Dezember 2002 - also ein Jahr nach Abschluss des Brüsseler Abkommens - die erste Ernüchterung: Das Brüsseler Abkommen kommt nicht in den EU-Beitrittsvertrag mit Tschechien. Die Frage der Einklagbarkeit der Österreich zugesicherten Nachrüstungen wird kritisch hinterfragt und die Skepsis und die Sorgen in der Bevölkerung steigen, denn …

Regelmäßig stattfindende und mit tschechischen und internationalen Experten besetzte Workshops im Rahmen des Brüsseler Abkommens ernüchtern zusehends: die vereinbarten Sicherheitsnachrüstungen werden nicht umgesetzt. Die internationalen Experten sind mit den von Tschechien präsentierten Lösungen nicht zufrieden. Dennoch erteilt das tschechische Staatsamt für Kernsicherheit (SUJB) im Oktober 2004 die atomrechtliche Genehmigung und die Baubehörde im November 2006 die letzte noch ausstehende Genehmigung. Laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEO) sind die Reaktoren in Temelin ohnedies seit Oktober 2002 bzw. seit April 2003 im kommerziellen Betrieb. Zu dem Zeitpunkt kommt es ans Tageslicht, dass das im Vertrag zugesicherte Ultimatum "kommerzielle Inbetriebnahme" im tschechischen Recht überhaupt nicht existiert …

Neue massive Proteste sind die Folge: Der österreichische Nationalrat fordert im Dezember 2006 einstimmig (!) die Bundesregierung auf, gegen Tschechien eine Völkerrechtsklage wegen Bruch des Brüsseler Abkommen einzubringen. Nur: Die Bundesregierung denkt offensichtlich nicht daran, auf eine lückenlose Umsetzung des Brüsseler Abkommens zu drängen und Tschechien aufzufordern, endlich das Brüsseler Abkommen umzusetzen. Eine Serie von neuen Grenzblockaden von Feber 2007 bis Mai 2007 ist die Folge! Der damalige tschechische Außenminister droht, die EU-Kommission wegen der neuerlichen Grenzblockaden einzuschalten. Leider tut er das aber nicht. Offensichtlich erkennt er rechtzeitig, dass eine solche mediale Aufmerksamkeit Licht in das windige tschechische Verhalten bringen würde - und das auf EU-Ebene …

Zu guter Letzt wird auch noch aufgedeckt, dass Tschechien nicht einmal den Informationspflichten aus dem Brüsseler Abkommen korrekt nachkommt: 14 Störfälle nach INES-1 wurden nicht wie vereinbart dem österreichischen Umweltministerium gemeldet.

Tschechien quittiert die Grenzblockaden im übrigen sehr kühn: im Jahr 2007 (also 7 Jahre nach Abschluss des Brüsseler Abkommens) - streitet man die völkerrechtliche Verbindlichkeit ab. Lediglich ein Protokoll wäre das Brüsseler Abkommen, das Tschechien zu nichts verpflichten würde. Für Tschechien der einzige Ausweg aus dem Konflikt und ein Eingeständnis, dass man die zugesicherten Sicherheitsnachrüstungen nicht umsetzen kann (siehe baugleicher AKW-Typ in der ehemaligen DDR)?

Dennoch: die wiederaufflammende Grenzblockaden-Serie bewirken immerhin, dass sich der österreichische Bundeskanzler zum Handeln gezwungen sieht: im Mai 2007 übermittelt er dem tschechischen Premierminister eine Diplomtische Note, in der unmissverständlich festgehalten wird, dass aus der österreichischen Sicht das Brüsseler Abkommen nicht umgesetzt wurde. Von einer Völkerrechtsklage sieht man aber ab, nicht zuletzt deshalb weil Tschechien den Internationalen Gerichtshof nicht anerkennt. Einer Klagseinbringung beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag wäre aber dennoch möglich. Weitere Verhandlungen werden anberaumt, eine interparlamentarische Kommission installiert, die weiter reden und reden und reden soll … es gelingt dabei weder, die Frage der völkerrechtlichen Verbindlichkeit des Brüsseler Abkommens zu klären noch die lückenlose Umsetzung des Brüsseler Abkommens zu erreichen.

Das AKW Temelin belastet das österreichisch-tschechische Verhältnis - nach wie vor. Bei allen bilateralen Treffen ist Thema, dass es offene Sicherheitsfragen im AKW Temelin gibt! Dabei wäre der Konflikt so leicht zu beenden: Tschechien stellt die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Abkommens außer Frage und setzt alle mit Österreich vereinbarten Sicherheitsnachrüstungen um. Für Streitfragen rund das Brüsseler Abkommens soll der Internationale Gerichtshof anerkannt werden.

Die Intention des Brüsseler Abkommens war aber - und das sieht man leider im Rückblick klar und deutlich - nicht eine Sicherheitsnachrüstung im AKW Temelin. Es ging vielmehr darum, die Proteste an den Grenzen auszubremsen. Milos Zeman - tschechischer Premierminister und Verhandler des Brüsseler Abkommens - schreibt in seinen im Jahr 2005 erschienen Memoiren zum Abkommen: "Ehrlich gesagt war es eine Vereinbarung, die unseren absoluten Sieg bedeutete und gerade deswegen war es notwendig, den Gegner nicht zu erniedrigen, sondern ihm einen roten Teppich zum Rückzug zu legen."

Roland Egger - atomstopp_oberoesterreich, Obmann atomstopp_atomkraftfrei leben!
Gabriele Schweiger - atomstopp_oberoesterreich, Obfrau Mütter gegen Atomgefahr, Freistadt


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